Gdamer über die Kritik Heideggers an der abendländischen Philosophie

Einleitung

Die radikale Kritik Heideggers an der abendländischen Philosophie und die Reaktion Hans-Georg Gadamers darauf bilden einen spannenden Diskurs in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Heideggers zentrale These lautet, dass die Philosophie seit Platon das “Sein” vergessen habe, indem sie sich auf das “Seiende” fokussierte, also auf die Dinge und ihre Eigenschaften, statt auf die grundsätzliche Frage nach der Bedeutung des Seins selbst. Diese sogenannte “Seinsvergessenheit” sieht Heidegger als Grundproblem der westlichen Metaphysik.

Hans-Georg Gadamer, ein Schüler Heideggers und bedeutender Vertreter der Hermeneutik, teilt zwar die Wertschätzung für die Frage nach dem Sein, stellt aber Heideggers radikale Diagnose infrage. Gadamer argumentiert, dass die Tradition der Philosophie nicht einfach “irregegangen” ist, sondern vielmehr als lebendige Überlieferung verstanden werden muss. Für Gadamer hat die Philosophie seit Platon wichtige Beiträge zur Reflexion über die Welt und das menschliche Verstehen geleistet, auch wenn sie die Frage nach dem Sein nicht so explizit formuliert hat wie Heidegger.
Gadamer betont in seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode die Bedeutung der Tradition und des Dialogs. Anders als Heidegger, der oft von einem radikalen Bruch mit der bisherigen Philosophie spricht, sieht Gadamer die philosophische Tradition als eine fortwährende Auseinandersetzung, in der die Wahrheit durch das Verstehen und den Dialog im historischen Kontext immer neu ausgehandelt wird. In diesem Sinne akzeptiert Gadamer die “Seinsvergessenheit” nicht als so grundlegenden Bruch, wie Heidegger sie darstellt. Vielmehr sieht er in der Tradition eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragen, die auch implizit das Sein betreffen können.
Gadamers Perspektive auf die Kritik Heideggers ist insofern bemerkenswert, als sie eine Brücke zwischen radikaler Kritik und konstruktiver Auseinandersetzung schlägt. Während Heidegger eine Art “Neuanfang” fordert, sieht Gadamer die Möglichkeit, innerhalb der Tradition weiterzudenken und das Sein im Kontext des Verstehensprozesses wieder zu entdecken. Seine hermeneutische Philosophie zeigt, dass das Verstehen immer ein dialogisches und historisch vermitteltes Geschehen ist. Diese Haltung ist besonders fruchtbar, weil sie die Philosophie als offene Suche begreift und nicht als eine Bewegung, die an einem einzigen Punkt “gescheitert” ist.

Insofern könnte man sagen, dass Gadamer die Philosophiegeschichte eher als Entwicklung sieht, während Heidegger sie teilweise als Verfehlung interpretiert. Gadamer ermöglicht damit eine optimistischere Sicht auf die Rolle der Tradition, ohne die Frage nach dem Sein zu marginalisieren.

Hans-Georg Gadamer hat sich in Wahrheit und Methode (1960) intensiv mit der von Martin Heidegger formulierten Frage nach dem Sein auseinandergesetzt. Gadamer teilt Heideggers Einsicht, dass die Seinfrage nicht auf eine bloß objektive Bestimmung des Seins abzielt, sondern vielmehr die Bedingung für Verstehen und Sinn betrifft. Gadamer erweitert jedoch Heideggers Ansatz, indem er den Fokus auf die hermeneutische Dimension der Seinserfahrung legt – insbesondere auf die Rolle der Sprache.

Gadamers Perspektive auf Heideggers Seinfrage

  1. Die Sprache als Weg zum Sein:Gadamer sieht in der Sprache nicht nur ein Mittel des Verstehens, sondern das Medium, in dem sich Sein selbst offenbart. Er schreibt:

“Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.”
(Wahrheit und Methode, Mohr Siebeck, 2010, S. 478)
Damit erweitert Gadamer Heideggers Seinfrage, indem er betont, dass die Offenheit für das Sein immer in der sprachlichen Verständigung geschieht. Für Gadamer ist die Sprache das, was Heidegger als „Lichtung“ des Seins bezeichnet.

  1. Kritik und Fortführung der Seinfrage:

Gadamer erkennt die Bedeutung von Heideggers Seinfrage an, kritisiert jedoch dessen Fokus auf die Seinsvergessenheit als historisches Phänomen. Stattdessen legt er Wert darauf, wie sich Sein im Dialog, in der Hermeneutik und im historischen Bewusstsein konkretisiert. Gadamer argumentiert, dass die hermeneutische Erfahrung selbst die Antwort auf die Seinfrage darstellt.

  1. Bezug zur geschichtlichen Dimension des Seins:

Gadamer verweist auf die geschichtliche Bedingtheit der Seinserfahrung und schreibt:
“Das Sein ist nicht unabhängig vom Verstehen, sondern es ist durch die geschichtliche Vermittlung hindurch für uns zugänglich.”
(Wahrheit und Methode, Mohr Siebeck, 2010, S. 298)
Hier zeigt sich Gadamers Abgrenzung von Heidegger: Während Heidegger das Sein als Ursprungsgeschichte begreift, sieht Gadamer es stärker in der konkreten, geschichtlich vermittelten Hermeneutik.
Gadamer denkt Heideggers Seinfrage weiter, indem er die Sprache und das Verstehen ins Zentrum rückt. Während Heidegger die Seinsvergessenheit als Problem der Metaphysik diagnostiziert, zeigt Gadamer, dass das Sein immer geschichtlich und sprachlich vermittelt erfahren wird. Sein hermeneutischer Ansatz macht die Seinfrage in der Begegnung und im Dialog lebendig.
Hier einige zentrale Aspekte und Textstellen aus Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode, die seine Auseinandersetzung mit Heideggers Seinfrage und ihre Weiterführung verdeutlichen:

  1. Verstehen als ontologischer Vollzug

Gadamer greift Heideggers Verständnis von Verstehen als Grundmodus menschlicher Existenz auf und erweitert es um die sprachliche und geschichtliche Dimension. Für Gadamer ist Verstehen nicht bloß subjektiv, sondern geschichtlich vermittelt: Das Sein ist nicht unabhängig vom Verstehen, sondern ein wesentlicher Teil der geschichtlichen Vermittlung und dadurch dem menschlichen Dasein zugänglich.

Hier betont Gadamer, dass das Verstehen immer in einem Dialog mit der Tradition steht, während Heidegger stärker auf die existenzialontologische Seite des Selbstverstehens fokussiert war.

  1. Sprache als Medium des Seins:

Gadamer sieht die Sprache als Schlüssel zur Seinserfahrung und formuliert seine bekannte Aussage: Sein, das versteht und verstanden werden kann, ist Sprache und durch sie möglich.

Diese Formulierung baut auf Heideggers Vorstellung der Sprache als „Haus des Seins“ auf, jedoch interpretiert Gadamer die Sprache nicht nur als Ausdruck des Seins, sondern als das Medium, das Verstehen und Sinnbildung überhaupt erst ermöglicht.

  1. Kritik an Heideggers “Destruktion”:

Während Heidegger die „Destruktion“ der traditionellen Philosophie forderte, um die ursprüngliche Seinserfahrung freizulegen, rehabilitiert Gadamer die Tradition als unverzichtbares Medium des Verstehens:

„Es gehört zu den Grundüberzeugungen von Wahrheit und Methode, dass uns ‚die Begrifflichkeit, in der sich das Philosophieren entfaltet, immer schon in derselben Weise eingenommen hat, in der uns die Sprache, in der wir leben, bestimmt.‘“ (Wahrheit und Methode, S. 478).
Damit argumentiert Gadamer, dass der Versuch, die Tradition vollständig abzubauen, unmöglich sei, da jegliches Denken und Verstehen immer schon in einem geschichtlichen Kontext stattfindet.

  1. Hermeneutische Erfahrung als Antwort auf die Seinfrage:

Gadamer versteht die hermeneutische Erfahrung selbst als Antwort auf die Seinfrage. Diese Erfahrung ist keine bloße Wiederentdeckung des Ursprünglichen, sondern ein Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart:

„Das Verstehen ist vielmehr selbst die Verwirklichung des geschichtlichen Seins, indem es das Gehörte und Verstandene in neuer Weise gegenwärtig macht.“ (Wahrheit und Methode, S. 307).

Zusammenfassung:

Gadamer übernimmt die zentrale Idee Heideggers, dass die Seinfrage das Fundament des Verstehens bildet. Er verschiebt den Fokus jedoch von Heideggers existentialontologischem Ansatz hin zu einer hermeneutisch-linguistischen Perspektive, in der die Sprache und die Tradition als konstitutiv für das Verstehen hervorgehoben werden. Sein Werk stellt somit eine Weiterführung und zugleich eine subtile Kritik an Heideggers Ansatz dar.

 

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